Wer sind wir in Europa, welche Herausforderungen und Perspektiven haben wir? Um sich darüber Gedanken zu machen, hat die Konrad-Adenauer-Stiftung 22 Studierende aus Deutschland und den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zu einer Summer School eingeladen.

Ich war Anfang August dabei, in Viinistu in Estland, einem Einhundert-Einwohner-Örtchen an der Ostsee. In diesem Beitrag möchte ich einige Punkte teilen, die ich von unseren europäischen Freunden gelernt habe.

Die baltischen Staaten ist nur eine geografische Bezeichnung. Auch wenn in Deutschland Estland, Lettland und Litauen fast immer in einem Satz stehen, eine baltische Identität gibt es nicht.

Ein näherer Blick: Was muss ich über die baltischen Staaten wissen?

Estland (1,3 Millionen Einwohner): Estland sieht sich als nordeuropäisches Land. Die estnische Sprache ist mit Finnisch verwandt, von Tallinn nach Helsinki sind es etwa 80 Kilometer – mit der Fähre. Und über die Hälfte der Bevölkerung ist atheistisch.

Lettland (2 Millionen Einwohner): Das Land in der Mitte. Lettland hat von allen baltischen Staaten die größte russische Minderheit. Ein Viertel der Bevölkerung sind Russen, ein Drittel russisch sprachig. In der Hauptstadt Riga ist Russisch sogar verbreiteter als Lettisch.

Litauen (2,9 Millionen Einwohner): Im Gegensatz zu Lettland und Estland hat Litauen fast keine russische Minderheit. Anders als Tallinn und Riga ist die Hauptstadt Vilnius auch nicht durch die deutsche Hanse geprägt. Litauen hat eine gemeinsame Geschichte mit Polen und ist überwiegend katholisch.

Estland, Lettland und Litauen teilen aber eine gemeinsame (Leidens-) Geschichte als Teil der Sowjetunion. Heute, am 23. August, jährt sich der Hitler-Stalin-Pakt, in dessen Folge die baltischen Staaten von der Sowjetunion okkupiert wurden.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion erlangten sie 1991 ihre Unabhängigkeit zurück. Seitdem stehen sie in politischen Fragen nah beieinander, insbesondere in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik – auch ein Thema der Summer School.

NATO- und EU-Mitglieder seit 2004: Was erwarten Estland, Lettland und Litauen von Europa?

Sprache und Volkslieder, Religions- und Meinungsfreiheit – die Sowjetzeit raubte den Esten, Letten und Litauern, was bei uns selbstverständlich ist. Die NATO-Mitgliedschaft gilt seit den Unabhängigkeiten als einzige Möglichkeit, diese dauerhaft gegenüber Russland zu sichern.

Deshalb ist es wichtig, dass die NATO-Mitglieder ihre Verteidigungspolitik nicht so stiefmütterlich behandeln, wie es Deutschland jahrelang getan hat und die Zielvorgabe, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Rüstung auszugeben, einhalten.

In Brüssel ist der Einfluss der baltischen Staaten begrenzt, kleine und junge EU-Mitglieder haben wenig Gewicht. Die baltischen Staaten haben allerdings auch weniger Eigeninteressen als große Mitglieder. Eine Auto- oder Stahlindustrie, die immer wieder im Fokus der EU-Politik steht, haben Estland, Lettland und Litauen nicht. Übergeordnete Interessen wie Wirtschaftswachstum, ein stabiler Euro und sichere Außengrenzen teilen die baltischen Staaten mit Deutschland.

Vor allem erwarten die Esten, Letten und Litauer aktuell mehr Verständnis für ihre Situation. Die Propaganda durch russischsprachige Medien, die Instrumentalisierung russischer Minderheiten ist keine Ausnahme wie der Fall Lisa in Deutschland, sondern der Alltag.

Es gibt die abstrakte Befürchtung, dass sich in den baltischen Staaten das wiederholen könnte, was in der Ukraine seit 2014 und in Georgien seit 2008 passiert ist: Mit hybrider Kriegsführung verschiebt Russland de facto seine Außengrenzen. Auch nur einen Millimeter der Krim-Annexion anzuerkennen wäre ein Affront für unsere Freunde im Baltikum.

Wir helfen bei der Verteidigung, aber helfen uns Estland, Lettland und Litauen in Fragen der Migration?

Bisher eher weniger, aber das könnte ein Deal werden. Zunächst einmal sind nicht alle Esten, Letten und Litauer gegen Flüchtlinge. Es gibt auch Stimmen, die daran erinnern, dass während der Sowjetzeit und im Zweiten Weltkrieg Menschen aus den baltischen Staaten geflüchtet sind und diese Staaten nun in Verantwortung stünden.

Flüchtlingsquoten sind realpolitisch aber nicht mehrheitsfähig. Eine häufig geäußerte Ansicht meiner baltischen Freunde ist, dass ihre Länder finanziell und infrastrukturell nicht auf die Aufnahme von Migranten vorbereitet sein.

Und eine EU-Migrationspolitik scheitert derzeit offenbar weniger an fehlenden Quoten oder mangelnder Solidarität, sondern an den Migranten: Einige derjenigen, denen ein Leben in Tallinn oder Riga geboten wurde, buchten nach wenigen Wochen oder Monaten ein Busticket – und reisten nach Deutschland.

Zwei Jahre nach dem Herbst der Euphorie ist auch in Deutschland die Migrationspolitik nüchterner. Einige Migranten werden sich nicht in den Arbeitsmarkt integrieren lassen, und Islamismus hat leider doch etwas mit dem Herbst 2015 zu tun. Diese Analysen dringen allerdings nicht bis ins Baltikum durch, Deutschland wird unisono als zuwanderungsfreundlich angesehen.

Lessons Learned – Was ich von der Summer School mitgenommen habe:

Über Politik zu schreiben ist einfacher, als Politik zu machen. Wenn in einer planspielhaften Kleingruppe mit vier Mitgliedsländern nach einer Stunde Diskussion zur Migrationspolitik am Ende nur die Forderung zu mehr Datenaustausch und die Betonung der Arbeitswillig- und -fähigkeit zur Integration konsensfähig sind, kann ich mir ausmalen, warum es unter 28 Mitgliedern seit Jahren keinen Plan gibt.

Ich sehe es aber als größten Erfolg, dass sich die Meinungen nicht an der Staatsangehörigkeit oder der Sprache scheiden, sondern an der Sache. Wir sind auf dem Weg in eine nationalstaatsübergreifende Europapolitik.